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Daseinsanalyse / daseinsanalytische Psychotherapie

Die Daseinsanalyse ist eine spezielle Richtung der Psychoanalyse, die von Ludwig Binswanger (1881-1966, daseinsanalytische Psychiatrie) und Medard Boss (1903-1990, daseinsanalytische Psychotherapie) in Weiterentwicklung der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Analytischen Psychologie C. G. Jungs begründet wurde. Als philosophische Grundlage dient in erster Linie die «Daseinsanalytik» Martin Heideggers mit ihren Existenzialien wie «Angst» oder «Sorge», die der deutsche Philosoph 1927 in seinem Hauptwerk «Sein und Zeit» vorgelegt hat. Er stützt sich dabei auf die Phänomenologie Edmund Husserls mit seinem Motto «zu den Sachen selbst». Kranksein als Hellhörigkeit.
Das hermeneutisch fundierte Krankheitsverständnis der Daseinsanalyse basiert auf Freuds revolutionärer Entdeckung, dass die manifest sichtbaren «unsinnigen» Symptome einen Sinn haben. Demnach kann das seelische Kranksein auch als Fähigkeit verstanden werden, über eine besondere «Hellhörigkeit» für die existenzielle Grundsituation des Menschen (das heideggersche «geworfen in sein Da» und «Sein-zum-Tode» des Menschen) zu verfügen (vgl. Alice Holzhey-Kunz (2002): Das Subjekt in der Kur. Über die Bedingungen psychoanalytischer Psychotherapie). Diese Hellhörigkeit wird oft durch traumatische Erfahrungen in der Kindheit geweckt.

Sinn und Bedeutung der Phänomene
Im Unterschied zur freudschen Psychoanalyse verzichtet die Daseinsanalyse jedoch auf kausal-genetische Deutungen aus der Vergangenheit und versucht stattdessen, den Sinn- und Bedeutungsgehalt der beobachteten Phänomene zu erforschen. Nach Medard Boss (Grundriss der Medizin und der Psychologie, 1971) ist ein Mensch dann krank, wenn die von Heidegger aufgezeigten Existenzialien in ihrem Vollzug beeinträchtigt sind. Gesundsein ist im daseinsanalytischen Verständnis demnach die Freiheit des Menschen zur grösstmöglichen Entfaltung seiner Fähigkeiten und zur adäquaten «Antwort auf das ihm Begegnende».

Selbsterkenntnis im analytischen Gespräch
Als Kardinalsweg zur Heilung gilt der Daseinsanalyse die «Selbsterkenntnis» im Sinne der Bereitschaft, sich den bedrohlichen Aspekten des eigenen Seins zu stellen und mit ihnen auf neue Weise auseinanderzusetzen («Umstimmung und Öffnung für Neues»). Das bevorzugte Medium dieser Selbsterkenntnis und Neuorientierung ist die Sprache (nach Heidegger das «Haus des Seins»), mithin das «analytische» Gespräch. Entsprechend dem daseinsanalytischen Verständnis von Gesundheit verfolgt es das Ziel, dem Patienten ein grösstmögliches Mass an Freiheit und Selbstbestimmung zurückzugeben.

Wider die Entfremdung und Entmenschlichung
Die sozialpolitische Relevanz der Daseinsanalyse liegt in ihrer Aufforderung zu einem ganzheitlichen Verständnis menschlichen Krankseins. Der Mensch ist insbesondere auf eine menschgerechte Umwelt angewiesen, die ihm möglichst wenig Entfremdung und Entmenschlichung aufbürdet.

(siehe dazu die Publikation: Suzanne C. Cottier & Esther Rohner-Artho (1990): Der Krankheitsbegriff in der Daseinsanalyse. Sowie: Website der Gesellschaft für hermeneutische Anthropologie und Daseinsanalyse GAD)